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Heute geht´s ums Atmen. Und nicht nur das – es geht um den Hunger auf Atem. Etwas Elementareres als das Atmen kann ich mir kaum vorstellen. Stellen wir doch am Vorhandensein des Atems freudig fest, dass wir noch am Leben sind. Der Atem begleitet uns mit seinem stetigen Rhythmus ein Leben lang, er wird uns geschenkt und oft nicht beachtet. Wir alle wissen, mehr oder weniger, dass Atmen hochautomatisiert abläuft (zum Glück) und doch gibt es ein Verständnis, oder eine Ahnung davon, dass Atmen noch mehr ist, dass Atmung noch mehr kann.

Nun bin ich als Atem- und Stimmtherapeutin sowie als Yogalehrerin immer nah am Puls der Atmung und auf ganz verschiedene Weise mit dem Atem verbunden. Neben meiner generellen Faszination und Überzeugung, dass atmen heilsam ist, streiften zahlreiche Konzepte des „Mythos Atem“ meinen beruflichen Weg. Und dennoch gab es immer einen verwirrenden Punkt: Warum wird in der Stimmtherapie von einer ökonomischen und reduzierten (besonders Ein-)Atmung gesprochen, von der ich weiß, dass sie funktioniert, und in so vielen Yogastilen wird das Gegenteil, nämlich viel atmen, unterrichtet? Nach dem Motto: „Viel atmen bringt viel Sauerstoff“ (und Sauerstoff ist ja bekanntlich gut für uns). Also wenn viel atmen gut ist, warum sind dann meine Stimmpatienten mit der reduzierten Atmung oftmals genesen und litten an keinerlei Erstickungssymptomen (zumindest weiß ich von keinem)?

Die Antwort fand ich bei Dr. Artour Rakhimov. Er ist Autor des Buches „Yoga – Die Geheimnisse liegen in der reduzierten Atmung“[1]. Rakhimov bezieht sich auf die Buteyko-Methode[2], benannt nach Prof. K.P. Buteyko, der sie in den 1950er Jahren in der ehemaligen Sowjetunion entwickelte[3]. Hier wird erläutert, dass eine reduzierte Atmung und die Etablierung von Atemhunger (also das Gegenteil von viel atmen) auf körperlicher und psychischer Ebene gesundheitsförderliche Effekte erzielt[4] und sogar heilende Wirkungen zeitigt. Buteyko spricht vom Chronic Hyperventilation Syndrome (CHS) und meint damit, dass Überatmen (hyperventilieren), keinesfalls zu einer besseren Sauerstoffversorgung des Körpers führt, sondern zu einem gesundheitsschädlichen Kohlenstoffdioxidmangel (CO2 – Mangel). Dieser Mangel wiederum ist Verursacher vieler Erkrankungen und darüber hinaus für eine schlechtere Sauerstoffversorgung auf Zellebene verantwortlich. Paradoxerweise führt also (zu) viel atmen zu Sauerstoffmangel[5]. CO2 sorgt dafür, dass die Blutgefäße sich weiten und die O2 –Moleküle sich besser von den roten Blutkörperchen (deren Transportvehikel auf dem Weg zu den Zellen) lösen. Dies zusammen macht den Stoffwechsel effizienter und wird „Bohr-Effekt“ genannt[6]. Ist der CO2 – Gehalt also auf einem konstant höherem Level, kommt es letztendlich zu einer besseren Sauerstoffversorgung auf Zellebene (da wo der Sauerstoff auch gebraucht wird und ein Zeichen von Gesundheit ist).

Die Yoga-Atemansage des sehr viel und tief Atmens führt Rakhimov auf Missinterpretation der alten Yogatexte oder schlichtweg Unwissenheit der modernen YogalehrerInnen zurück[7]. Sein Appell geht in folgende Richtung: eine Vollatmung (damit ist die Bauch- bzw. Zwerchfellatmung gemeint), die ausschließlich durch die Nase erfolgt, sowie die schrittweise Reduzierung des Atems durch das Kennenlernen des Atemhungers ist für eine gesunde und heilende Yogapraxis (sowie Alltagsleben) unabdingbar.

Um das ganz praktisch auf der Matte erfahrbar zu machen, bietet sich der Ujjayi-Atem an, der einer der bekannteren Atemtechniken oder Pranayama im Yoga ist. Hierbei wird eine sanfte Verengung der Stimmlippen durch Kontraktion der Kehlkopfmuskulatur hergestellt. Am leichtesten ist das nachzuvollziehen, wenn Du gegen einen Spiegel hauchst oder ein langes sanftes „haaaaaahhh“ sprichst. Dies hauchende, massierende Gefühl im Rachen behältst du bei der Ein- sowie bei der Ausatmung bei und schließt deinen Mund. Setze Ujjayi mit geschlossenen Lippen und Nasenatmung fort und lass den Atemstrom immer langsamer und reduzierter werden. Wenn du mehr willst, setze Atempausen nach der Ein- und/oder Ausatmung. Ob mit oder ohne Atempausen wirst du nach einiger Zeit der langsamen Ujjayi-Atmung feststellen, dass vielleicht dein Zwerchfell zuckt oder das Bedürfnis größer wird, jetzt mal so richtig tief durchzuatmen. Dies ist der Luft- oder Atemhunger, der da anklopft. Wenn du trainierst, den Atemhunger länger zu tolerieren, treten die von Buteyko und Co beschriebenen positiven Effekte eines hohen CO2 – Gehaltes im Blut auch bei dir ein: Beruhigung des Nervensystems, Verbesserung des Immunsystems, Steigerung des Stoffwechsels und allgemein eine bessere psychische Verfassung, ausgezeichnet durch eine ruhige, gefasste, dankbare und ausgeglichene Persönlichkeit[8]. Und das ist doch was, oder?!


[1] Rakhimov, Artour: Yoga – die Geheimnisse liegen in einer reduzierten Atmung, Selbstverlag 2012

[2] Vgl. Kolb, Peter: Buteyko. For the Reversal of Chronic Hyperventilation

[3] Schoeberl, Ansgar: Wie CO2 dich heilt: Atemnormalisierung nach der Buteyko-Methode, Yoga Aktuell 116 03/2019

[4] Kolb, Peter: ebd. S. 6ff

[5] Rakhimov, Artour: ebd. S. 36f und Kolb, Peter: ebd. S. 5

[6] Rahkimov, Artour: ebd. S. 69

[7] Rakhimov, Artour: ebd. S. 24ff

[8] Ebd. S. 80

 

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