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„Es ist das Kind, das Licht ins Dunkel bringt und vor sich her trägt.“ (C.G. Jung)

Für „Kindheit und Gegenwart“ beziehe ich mich auf die Arbeit mit dem inneren Kind. Oft sind es unbearbeitete Anteile, die in uns ihr unbewusstes Unwesen treiben und uns in der Gegenwart das Leben verkomplizieren. Manchmal schicken wir unser inneres Kind auf die Bühne des Lebens und agieren aus einer kindlichen Gefühlslage heraus. Wie wir das erkennen und bearbeiten und wie Yoga uns dabei hilft, uns auszubalancieren und Selbstverantwortung für unser erwachsenes Ich zu übernehmen, wird im Folgenden beschrieben.

Zu Beginn dieses Artikels sei ganz deutlich gesagt, dass hier kein Anspruch auf eine differenzierte Darstellung psychodynamischer Theorien erhoben wird, es geht vielmehr um das Handhabbarmachen im Alltag und um die Verknüpfung mit yogischen Ansätzen zur Bewusstwerdung. Wer sich tiefergehend mit dem Thema beschäftigen möchte, dem seien die Literaturhinweise in den Fußnoten oder natürlich eine Therapie mit ausgebildetem Psychotherapeuten ans Herz gelegt. Ich beziehe mich in dem Artikel  hauptsächlich auf die Arbeiten von Stefanie Stahl[1], Cornelia Schenk[2] und Anna Trökes[3]

Nun aber los.

Was ist das „innere Kind“? Das innere Kind wird in der Literatur verschieden verwendet. Es kann auf der einen Seite unser kindlicher Anteil sein im Orchester unserer inneren Kräfte (dem „inneren Team“ im Wortlaut von Schulz von Thun), so wie es z.B. auch den Antreiber, den Kritiker, den Mutmacher etc. gib. Hier steht das innere Kind dann für die verspielte Seite in uns, die die Dinge und das Leben und sich selbst nicht so ernst nimmt, und lieber eine Runde schaukeln geht, als sich stundenlang aufzuregen. Dieses Kind in uns zu pflegen und zu nähren ist wichtig, denn es ist auch Bestandteil eines ausgewogenen erwachsenen Lebens

In der Psychologie und der Psychoanalyse spielt das innere Kind noch eine andere Rolle.

Das innere Kind steht hier für unsere unbewussten Persönlichkeitsanteile und unsere Gefühle („positive“ wie „negative“ Gefühle). Daneben gibt es den inneren Erwachsenen, der unser Denken und den Verstand repräsentiert. Der innere Erwachsene kann argumentieren und sachlich urteilen, er kann das innere Kind ausbalancieren[4]. Das Ziel der Arbeit mit dem inneren Kind ist, dieses mit dem inneren Erwachsenen wieder in Harmonie zu bringen und psychische Verletzungen aus der Vergangenheit im „Hier und Jetzt“ zu heilen. Es geht immer um das Übernehmen von liebevoller Eigenverantwortung.

In jedem von uns sind vier psychische Grundbedürfnisse angelegt, die im Laufe unserer Kindheit von den Eltern oder Erziehungsberechtigten erfüllt werden sollten, um uns zu einem gesunden erwachsenen Menschen heranwachsen zu lassen. Sie lauten:

  • sichere Bindung und Nähe
  • Selbstständigkeit und Abgrenzung
  • Anerkennung und Selbstwertbestätigung
  • Lustgewinn, Freude und Spaß[5]

Meist werden eines oder mehrere dieser Grundbedürfnisse in mehr oder weniger starker Ausprägung verletzt. Wie stark uns die Nicht-Erfüllung unserer psychischen Grundbedürfnisse, die sich im Laufe des Lebens nicht ändern, als Belastung für unser Wohlbefinden und unsere Fähigkeit, als Erwachsener ein ausgeglichenes und glückliches Leben zu führen, behindern, hängt von der Schwere der Nicht-Erfüllung ab und auch von unserer eigenen psychischen Verletzlichkeit (Vulnerabilität).

Letztendlich entstehen in unserer Kindheit unsere positiven und negativen Glaubenssätze über uns, unsere Umwelt und das Leben. Die Erfüllung oder Nicht-Erfüllung unserer vier psychischen Grundbedürfnisse seitens unserer Eltern trägt zu unserer Sicht auf die Welt und uns maßgeblich bei. Stefanie Stahl schreibt in ihrem Buch, dass ihr kein psychisches Problem einfalle, dass sich nicht auf die Verletzung eines oder mehrerer dieser Grundbedürfnisse zurück führen ließe[6].

Eine sehr probate Methode ist das Herauskristallisieren unserer eigenen positiven und negativen Glaubenssätze. Zahlreiche Bücher (u.a. die in den Fußnoten genannten) befassen sich sehr ausführlich mit dem Herausarbeiten der Glaubenssätze. Stefanie Stahl gibt einige sehr beliebte Sätze vor, die viele Menschen in ihrem Leben begleiten. Eine kleine Auswahl der negativen Glaubenssätze (da es um die Bearbeitung dieser vordergründlich geht) soll hier wiedergegeben werden:

  • Ich bin nix wert!
  • Ich bin nicht liebenswert!
  • Ich bin schlecht!
  • Ich kann nix!
  • Ich komme zu kurz!
  • Ich falle zur Last!
  • Ich bin ohnmächtig!
  • Du liebst mich nicht!
  • Ich bin für deine Laune verantwortlich!
  • Ich muss lieb und artig sein!
  • Ich muss alles richtig machen!
  • Ich muss stark sein!
  • Ich muss deine Erwartungen erfüllen![7]

 

Verständlich, dass ein Leben, das geprägt ist von diesen Sätzen, schwer und trostlos daherkommt. Unsere kleine-Kind-Version ist verletzt und einsam und weiß keinen Ausweg. Die Glaubenssätze sitzen meist sehr tief und sind in ihrer enormen Wirksamkeit in der Gegenwart nicht zu unterschätzen. Das wir uns unserer Glaubenssätze bewusst werden, ermöglicht eine Verknüpfung von alten Verletzungen mit heutigen Verhaltensweisen und „Überreaktionen“. Das ist ein erster Schritt, Klarsicht in die ganze emotionale Brühe zu bekommen. Es geht nun darum, unser inneres Kind zur Seite zu nehmen und es zu trösten. Wenn wir heute als erwachsene Person unser inneres Kind in den Arm nehmen können und ihm zuhören, kann ein wichtiger Schritt in Richtung Heilung getan werden. Das innere Kind ernst zu nehmen und die Verletzungen anzuschauen ist immer Teil dieses Prozesses.

Die Arbeit braucht etwas Zeit und ist auch mit der Konfrontation mit unangenehmen Kindheitserinnerungen verbunden. Es geht nicht darum, den Eltern für alles (auch heute noch) die Schuld zu geben. Sicherlich ist es hier sehr wichtig, zu differenzieren, um welche Art Verletzung es sich handelt. Schwere Missbrauchsfälle in der Kindheit müssen ggf. auch anders geahndet und auch strafrechtlich verfolgt werden. Die Arbeit mit dem inneren Kind soll auch diese Art der Bewältigung nicht ersetzen. Sie soll dazu befähigen, die Zügel seines Lebens (wie Yoga übrigens auch), selbst in die Hand zu nehmen und zu schauen, was sind meine Bedürfnisse heute und wie kann ich sie auf eine gesunde Art und Weise befriedigen? Denn heute, das ist die gute Nachricht, sind die allermeisten Abhängigkeiten, in denen wir uns befinden, nur scheinbar zwingend und meistens auch noch selbst gemacht und selbst erdacht.

Jens Corssen, Psychologe und Coach, sagt dazu sinngemäß folgenden Satz: „Da wo ich bin, will ich sein, denn alles andere ist mir, zumindest in meiner Vorstellung, zu teuer“. Ich finde diesen Satz sehr eindrücklich, denn er beschreibt, dass wir immer die Wahl haben. Wenn ich bei meinem Arbeitsplatz mit dem anstrengenden Chef bleibe, dann nur, weil ich mir selber sage, eine Bewerbung lohne sich nicht, ich würde eh keinen anderen Job finden, wer weiß, ob es woanders besser wäre etc. Ich entscheide mich, da zu bleiben, wo ich bin, weil mir alle anderen Wege zu „teuer“ und nicht lohnenswert erscheinen. Ich habe in jeder Sekunde die Wahl, wie ich meine Realität wahrnehmen und einordnen möchte und wie ich diese bewerte. Wenn ich bleibe, wo ich bin, dann sollte ich dort ohne Groll bleiben. Denn wie schon Marc Aurel sagte, nimmt unsere Seele auf Dauer die Farbe unserer Gedanken an.

Aber zurück zur Verletzung unserer Grundbedürfnisse in der Kindheit. In einem harmloseren Fall vermittelten uns unsere Eltern vielleicht immer das Gefühl, gerade im unpassenden Moment zu kommen und reagierten oft gereizt auf uns. Daraus entstand der Glaube bei uns als Kind, wir fielen zur Last. Dieser Glaubenssatz konnte entstehen, weil wir noch keine reflektierende Instanz in uns trugen und auch noch nicht über ausreichend Wissen verfügten, das uns spiegelte, dass Vater und Mutter vielleicht nur so gereizt waren, weil sie ständig Sorge hatten, das Geld könnte am Ende des Monats knapp sein und dass eben diese Gereiztheit nichts mit uns als Kind und unserer Liebenswürdigkeit zu tun hat, sondern ausschließlich etwas mit unseren Eltern.

Heute ist dieser Erwachsene zu dieser Reflexionsleistung durchaus in der Lage, aber eine Verknüpfung von damals zu heute fällt uns oft schwer. Und im Endeffekt tragen unsere Eltern auch ihre inneren Kinder mit sich rum und haben vielleicht noch nie darüber nachgedacht, was sie unbewusst glauben.

Nun ist der Schritt, seine Glaubenssätze zu identifizieren, ein großer in Richtung Bewusstwerdung. Und auch hier zeigt sich wieder die Verbindung zum Yoga. Auch im Yoga geht es um ein gesteigertes Bewusstsein für sich, seine Bedürfnisse, seine Grenzen, seine Psyche, seinen Körper.

Habe ich Ungerechtigkeiten und Verletzungen aus meiner Kindheit erkannt, kann ein möglicher Weg sein, es heute mit mir selber besser zu machen und Verantwortung für mein Leben und mein Wohlergehen zu übernehmen. Jeder negative Glaubenssatz kann in einen positiven umgekehrt werden. Ich kann mich bei den alten Glaubenssätzen bedanken für ihre Begleitung und danach dürfen sie dann  ins Museum für außergewöhnliche Artefakte[8].

Häufig sind wir sehr mit unserem Opfer-Status identifiziert. Das Opfersein hatte wahrscheinlich damals seine Berechtigung. Es hat uns eventuell sogar davor geschützt, noch mehr verletzt zu werden. Aber in den meisten Fällen ist der Opferstatus heute im Hier und Jetzt hinderlich, unser volles Potential zu entfalten. Es schafft Groll und Ärger in uns, die nicht ausgelebt werden können und an dritte Personen adressiert sind, die vielleicht gar nicht mehr erreichbar sind. Wir tun uns damit selber mehr an, als dass wir unser eigentliches Ziel erreichen. Dies lautet meist nicht Rache, sondern Zufriedenheit oder Selbstentfaltung. Und da ist er, der springende Punkt.

Unsere negativen Glaubenssätze aus der Kindheit nageln uns in unserem Leben fest. Das Gefühl, nicht von der Stelle zu kommen, ist allgegenwärtig. Immer wieder scheint es so, als ob uns die selben Partnertypen über den Weg laufen, immer wieder haben wir im Grunde genommen, egal ob privat oder beruflich, dieselben Konflikte und Kämpfe auszufechten. Und das macht uns müde und unser eigentlich wertvolles Potential liegt brach, weil einfach die Kraft fehlt, oder weil wir uns immer wieder selber einreden (Glaubenssatz Nummer eins), wir seien nicht gut genug.

Schluss damit. Das innere Kind will und muss geheilt werden, damit Jetzt (und das ist der einzige Augenblick in unserem Leben, der zählt), genau Jetzt Frieden in uns entsteht und der Weg zur Ganzheit wiedergefunden werden kann.

Haben wir uns grundlegend mit uns, unserem inneren Kind, dem mangelndem Trost und den Verletzungen auseinandergesetzt, kann ein Gefühl von Eigenverantwortung in uns reifen. Die Geschehnisse von damals dürfen nicht mehr ihre verlängerten Arme bis in die Gegenwart hineinragen lassen und uns so dazu treiben, unser eigenes Glück durch eine verstellte Sichtweise auf die Dinge immer wieder zu sabotieren.

Und genau hier hilft auch eine geeignete, regelmäßige Yoga-Praxis. Wie schon oben beschrieben, soll Yoga uns in die Lage versetzen, die Zügel unseres Lebens in die Hand zu nehmen (Anna Trökes). Yoga ist die bewusste Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln, das eigene Wohlbefinden und das eigene Leben[9].

Auf der Yogamatte kann ich meinen Körper und meinen Atem besser kennenlernen. Ich kann Bewegung und Atem in Einklang bringen und lernen, mich ganz zu spüren. Ich kann meine körperliche Tiefenwahrnehmung verbessern und durch das „zur Ruhe bringen der Wellen des Geistes“[10] (das ist Yoga!) auch endlich meinen Fokus auf eine Sache richten. Der stetige Gedankenstrom und das Quatschen des Verstandes kann nach und nach reduziert werden, sodass ich zielgerichteter und weniger innerlich getrieben leben kann. Kommen die identifizierten negativen Glaubenssätze dazu, gibt es eine ehrliche Chance, diese aufzulösen und in etwas Positives zu verwandeln. Es geht nicht um Schönfärberei oder darum, einen pseudo-positiven Satz zu formulieren, den unser Herz gar nicht annehmen kann. Es geht um den schrittweisen Aufbau von Selbstliebe und darum die Schleier der Illusion (Sanskrit: Maya) zu lüften. Was man meiner Meinung nach auch mit dem Enttarnen unserer negativen Glaubenssätze gleich setzen kann.

Anna Trökes schlägt in ihrem Buch „Der kleine Alltags-Yogi“[11] eine interessante Methode vor, um falschen Annahmen von sich und der Welt auf die Schliche zu kommen: den Klesha-Check[12]. Kleshas sind laut Patanjali, einem Autor eines der Grundlagenwerke des Yoga, dem Yoga-Sutra, ca. 200 v.Chr., die fünf mächtigsten Störkräfte in unserem Geist. Sie lauten:

  • avidya: Unverständnis, Unwissenheit
  • asmita: Ego-Verhaftung, irrtümliche Einschätzung der Bedeutung unseres Egos
  • raga: Begierde
  • dvesha: Abneigung
  • abhinivesha: Unsicherheit/Angst[13]

Wenn wir merken, dass wir uns nicht wohl fühlen, unsere Gedanken negativ sind, Angst oder Verunsicherung eintreten, empfiehlt Anna Trökes den Klesha-Check. Hierbei rufen wir alle fünf Kleshas dazu auf, vor uns anzutreten (vor unserem inneren Auge). Wir befragen sie dazu: Wer von euch war es? Wer hat mich in dieses Gefühl gebracht? Meist kristallisiert sich ein Anführer heraus, der unsere Gedanken „vergiftet“ hat. Dann haben wir selber die Wahl zu entscheiden, ob dieser negative Gedanke nun förderlich für uns ist, oder ob wir lieber etwas anderes denken und eine Situation anders bewerten wollen.[14]

Ein Beispiel:

Mein Partner reagiert am Telefon kurz angebunden und sofort meldet sich der alte Glaubenssatz „Ich falle zur Last“ zu Wort. Ich fühle mich klein und schlecht und nicht gesehen. Nun bemerke ich diese unguten Gefühle und rufe meine Kleshas zum Apell. Ich merke, dass asmita am Werk war, die falsche Vorstellung von mir selbst (nämlich als klein und lästig) und abhinivesha mitgebracht hat (ich bin verunsichert und fühle mich nicht gesehen). Nun kann ich mich entscheiden, den Kleshas die Oberhand zu lassen und mich weiter schlecht zu fühlen, oder ich entscheide mich dafür, selbst die Kontrolle über meinen Geist zu haben, die Kleshas zurück in ihre Schranken zu verweisen und dem Kurzangebundensein meines Partners nicht diese überbordende Bedeutung beizumessen.

Mit der Zeit, so Anna Trökes, lernen wir, uns für Letzteres zu entscheiden, weil wir merken, dass es uns damit besser geht.

Und so werden wir mit der Zeit lernen, ein Bewusstsein für uns zu entwickeln, unsere negativen Glaubenssätze zu hinterfragen und sie aufzulösen, den Dingen eine angemessene Bedeutung zu geben und Selbstliebe zu etablieren. Begeben wir uns auf die Reise, uns selbst zu begegnen, auf der Yogamatte, am Arbeitsplatz, im Einkaufsladen. In uns allen schlummert ein unglaubliches Potential, das entdeckt und entfaltet werden will. Schenken wir uns selbst die Liebe und Aufmerksamkeit, die nötig sind, es vollends zu entfesseln und nach unserer eigenen Wahrheit zu leben. Tag für Tag.

 

Für jetzt und immer

lutzi

 

 

[1] Stefanie Stahl, Das Kind in dir muss Heimat finden, Kailash Verlag 2015

[2] Cornelia Schenk, Umarme dein inneres Kind, mvgverlag 2017

[3] Anna Trökes, Der Kleine Alltags-Yogi, Gräfe und Unzer Verlag 2014

[4] Stefanie Stahl, S. 18ff

[5] Cornelia Schenk, S. 65

[6] Ebd. S. 32

 

[7] Ebd. S. 73ff

[8]In Anlehnung an Cornelia Schenk, S. 93

[9] Anna Trökes, Die kleine Yogaphilosophie, O.W.Barth Verlag 2013, S. 30

[10] Yoga Sutra 1.2. von Patanjali

[11]  Anna Trökes, Der kleine Alltags-Yogi, Gräfe und Unzer Verlag 2014

[12] Ebd. S. 33

[13] Ebd. S. 31

[14] Ebd. S. 33ff

 

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